Reverie
Ann Cotten, David Hominal, Jannis Paetzold & Pippin Wigglesworth, Josip Novosel, Juliette Blightman, Ketuta Alexi-Meskhishvili, Luzie Meyer, Mathis Altmann, Monster Chetwynd, Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo), Robert Escalera, Vittorio Brodmann
22 May–3 July, 2020
Jannis Paetzold & Pippin Wigglesworth
Der Frust, 2020
vinyl letters
dimensions variable
Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo)
Isolution (Bubble) (Lutz Bacher), 2020

Im Jahr 1974 setzt sich die amerikanische Künstlerin Anne Truitt (geb. 1921) die Aufgabe, für ein Jahr jeden Morgen, gleich nach dem Aufwachen, zu schreiben. Die Uhrzeit oder Dauer setzte sie dabei nicht fest, nur, dass sie so lange schreiben würde wie sie angesichts anderer Verpflichtungen wollte oder konnte. Sie begann mit dem Schreiben als ein einjähriges Projekt weil sie das Gefühl hatte, dass ihre eigene und ihre Identität als Künstlerin nur wenig miteinander verflochten waren. In ihrem Tagebuch bezieht sie sich auf das Selbst, das verantwortlich ist für Haushaltspflichten und für das Muttersein, und auf sich selbst als Künstlerin. Des Weiteren schreibt sie, dass, sobald ihre Skulpturen Aufmerksamkeit bekamen, es ihr zunehmend schwer fiel sich selbst zu sehen: „Langsam wurde mir klar, dass ich für mich selbst weniger sichtbar wurde, je sichtbarer meine Arbeit wurde.“ Mit der Zeit transformierte Truitt die Integration des Selbst und schuf Orte für ihre Gedanken und jenen Teil ihrer Identität, den sie nicht in ihre Arbeit einbeziehen wollte. Sie schuf weiterhin groß angelegte Werke, ließ sich von ihrem Ehemann scheiden und zog ihre Kinder auf.

2014 nahm ich an der Gruppenausstellung Revelry teil, die Tenzing Barshee an der Kunsthalle Bern kuratierte. „Das private und das öffentliche Leben waren noch nie so stark verflochten wie heute [...], was unsere Vorstellung von Intimität in ständiger Fluktuation hält“, schrieb er im Pressetext. Es scheint treffend, dass sich Barshees Ausstellung Revelry sechs Jahre später in Reverie umwandelt. Während der Pandemie und der staatlich angeordneten Isolation verschmelzen privates und öffentliches Leben zu einer einzigen verzögerten, störanfälligen Erfahrung, die der Eröffnung von Revelry, so wie ich mich erinnere, nicht unähnlich ist.

Pippin Wigglesworths Beitrag zu Revelry war die Publikation Räume, geschrieben wie ein Tagebuch, jeder Eintrag mit dem Datum des jeweiligen Tages betitelt, gefolgt von einer detaillierten Beschreibung der verschiedenen Räume, die er jeden Tag im Rahmen seines Jobs inspizierte. Diese Passagen der Innerlichkeit rufen heute ein ganz anderes Narrativ hervor. Sein Beitrag zu Reverie fragt, ob ein „Text und dessen nachfolgende Veröffentlichung es schafft, eine Verbindung zu denen herzustellen, die wir lieben, geliebt haben und denen, die nicht mehr existieren.“ Vor seinem AIDS-Tod 1984 sprach Michel Foucault von einer Buchidee mit dem Titel „Technologien des Selbst“. Er beschrieb es als „zusammengesetzt aus verschiedenen Aufsätzen über das Selbst ..., über die Rolle des Lesens und Schreibens bei der Konstituierung des Selbst...“. Schreibt man, um zu schreiben, oder schreibt man, um gelesen zu werden? Anne Bower untersucht dieses Konzept eloquent durch das Schreiben von Briefen in ihrem 1996 erschienenen Buch „Epistolary Responses: Letter in Twentieth- century American Fiction and Criticism“.

Die Briefform, die traditionellerweise mit Frauen und mit der „privaten“ im Gegensatz zur „öffentlichen“ Sphäre assoziiert wird, bringt viele feministische Themen auf. Gleichzeitig ermöglicht der Brief, indem er den Akt des Schreibens und das Schreiben als Akt betont, die Erforschung postmoderner Fragen. Das Hin und Her von Briefen, ihr Wunsch nach Antwort, ihr unvollständiger Besitz von Informationen, ihr damit einhergehendes Spiel mit Vorstellungen von Abwesenheit und Anwesenheit und ihre scheinbar persönliche und private Natur gestalten eine interaktive Offenheit (obwohl man paradoxerweise immer schon weiß, dass diese scheinbare Offenheit zur Manipulation und Täuschung genutzt werden kann).

Reverie wird keine Eröffnung im traditionellen Sinn haben; die Ausstellung entsteht zu einer Zeit, in der Bewegung immer noch in vielerlei Hinsicht eingeschränkt ist, zu einer Zeit, in der Gedanken und Alltagsleben noch weiter rationalisiert wurden und nun in einem einzigen Existenzzustand zusammenlaufen. Wie Jean-Jacques Rousseau in den letzten Jahren seines Lebens und im Exil schrieb: „Dort versetzte das Rauschen der Wellen und das Herumwirbeln des Wassers, das meine Sinne fesselte und jegliche Störung aus meiner Seele verjagte, diese in eine entzückende Träumerei, in der mich die Nacht oft überraschte, ohne dass ich es bemerkt hatte.“ Das Narrativ, das sich durch die Ausstellung Reverie zieht, spiegelt dieses sich verändernde Licht wider, jetzt, da immer mehr Galerien und Institutionen wieder öffnen, Werke und Worte wieder physisch sichtbar und erfahrbar sind und man sie erleben kann, wie sie sein sollen, nämlich gebunden an körperliche Empfindungen, Farbe und Popmusik. Die Arbeiten in Reverie sind weich und ungeschickt, manche sind unhöflich, intensiv, rau und taff, wenn nicht gar hart. Ähnlich wie das Auf und Ab des Alltags.

Es gibt keinen Ersatz dafür, tatsächlich anwesend zu sein.

Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo)
What's it called when you fuck up in front of someone? I guess to name that emotion you would need to know who you fucked up in front of and what the fuck up is?embarrassment for some people and situations...We all have our moments just ignore me. Feel like shit sometimes but I'm learning to feel better...trying to be kind to an inner child even if it's embarrassing hearing it's voice, 2020
video, bed (mattress, pillow, bed sheets), empty bottle of poppers, chicken sandwich, glass with ice cubes, unwrapped condom
dimensions variable
Josip Novosel
Comfort, 2020
oil on cardboard canvas
40 x 30 cm
Mathis Altmann
Grind to a Halt, 2020
LED Matrix screen, 3‘26 min video loop, stainless steel, aluminum, tin picture
150 x 75 cm
Josip Novosel
Shampoochallenge "showerselfie", 2020
watercolor, gua on cardboard canvas
39 x 35 x 0.5 cm
Josip Novosel
Untitled, 2020
watercolor, gouache on paper plate
40 x 40 cm
Juliette Blightman
Portraits and Repetition, 2017
video, single channel with sound
Ketuta Alexi-Meskhishvili
Self-portrait in a Convex Mirror, 2020
archival pigment print
48 x 60.5 cm
Robert Escalera
Untitled Series, 2020
24 drawings, ink, color pencil, pencil
dimensions variable
Vittorio Brodmann
Grabdenkmal für einen Steuermann, 2020
Cardboard, papier-mâché, styrofoam, oil paint, paper, metal clip, t-shirt, stickers
70 x 26 x 35 cm
David Hominal
PINK, 2019
acrylic on canvas
93 x 65 cm
David Hominal
PINK, 2019
acrylic and material on canvas
93 x 65 cm
Josip Novosel
Patience, 2020
50 x 40 x 4 cm
David Hominal
Untitled, 2019
plastic, acrylic, wood, gesso, glitter
dimensions variable
Josip Novosel
Riding on the wrong clouT, 2020
watercolor, gouache, glass pipes, iphone packaging on cardboard canvas
40 x 30 x 5 cm
Mathis Altmann
We Petty Tech Bourgeois!, 2020
LED Matrix screen, 1‘50 min video loop, stainless steel, aluminum, epoxy, acrylics, photographs, miniatures, airbrush, LED diodes
100 x 90 x 14 cm
Josip Novosel
Daily Routine, 2020
o /w
50 x 40 cm
Ann Cotten
Unangenehme Situation I-IV
inkjet print, pencil and MP3 player
dimensions variable
Ketuta Alexi-Meskhishvili
I like America and America likes me, 2020
archival pigment print
31.4 x 39.01 cm
Ketuta Alexi-Meskhishvili
Danama, 2020
archival pigment print
108.26 x 135.4 cm
Vittorio Brodmann
Untitled, 2020
Juliette Blightman
Reverie and Revelry, 2020
photographic c-type print mounted on Alu-Dibond
40 x 70 cm
Juliette Blightman
Revelry and Reverie, 2020
photographic c-type print mounted on Alu-Dibond
40 x 70 cm
Josip Novosel
Morning stretch, 2020
o on nylon
100 x 69 x 2 cm
Luzie Meyer
Because such is the case, 2020
four channel sound installation
dimensions variable
David Hominal
Hey Gucci, 2019
oil on canvas
150 x 120 cm
Monster Chetwynd
Monster Cheetwynd Prize Possessions, 2020
inkjet print
118.9 x 84.1 cm